In der Schweiz gibt es so bald keine Möglichkeit, sich amtlich mit einem dritten Geschlecht zu identifizieren. Dies gab der Bundesrat gestern bekannt. Das binäre Geschlechtermodell sei in der schweizerischen Gesellschaft nach wie vor stark verankert; vor einem neuen Geschlechtermodell brauche es zuerst einen gesellschaftlichen Diskurs.
Hier die gesammelten Reaktionen aus Politik, Gesellschaft und der Presse:
Das SP-Organ «SP queer» schrieb noch am Mittwochabend in einer Pressemitteilung, man sei enttäuscht: «Der Entscheid des Bundesrats verkennt die Realität der Existenz non-binärer Menschen in der Gesellschaft», sagt Max Kranich, Co-Präsident der «SP queer». Die non-binäre Einordnung sei bei vielen in der Bevölkerung noch unbekannt, da aber ein Umdenken nicht von selbst stattfinde, solle der Bundesrat proaktiv darauf hinarbeiten.
Die SP Schweiz unterstützt ihre Untergruppe in ihrem Anliegen: «Wir setzen uns auf allen Ebenen für Selbstbestimmung, Chancengleichheit und gegen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und/oder der Geschlechtsidentität ein. Darum fordern wir als SP Schweiz unter anderem [...] die Einführung eines ‹Geschlechts X› bzw. einer dritten Geschlechtskategorie», schreibt Mediensprecher Nicolas Haesler auf Anfrage.
Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan bezeichnetet die Aussagen des Bundesrats als Ausflüchte. Es sei absurd und rückwärtsgewandt, dass der Bundesrat nicht anerkenne, dass sich die Gesellschaft weiterentwickle. Ein drittes, unbestimmtes Geschlecht sei für viele Menschen ein Bedürfnis. Die Partei kündigte an, eine parlamentarische Initiative oder eine Motion einzureichen, um ein drittes Geschlecht in der Schweiz zu ermöglichen.
Von bürgerlicher Seite her halten sich die Reaktionen in Grenzen. Die FDP findet den Bundesratsentscheid auf Anfrage «nachvollziehbar und schlüssig». Ebenso wie bei der SVP verweist man darauf, dass die Diskussion nicht zu den Kernthemen der Partei gehöre.
Für Transgender Network Switzerland ist die Haltung des Bundesrats eine «Ohrfeige gegen nicht binäre Menschen». Damit demonstriere der Bundesrat vor allem seine eigene feindliche Einstellung. Zudem kenne die Regierung die Haltung der Schweizer Bevölkerung nicht, denn in einer Untersuchung des Forschungsinstituts Sotomo von 2021 hätten sich 53 Prozent für einen Eintrag für nicht binäre Menschen in amtlichen Dokumenten ausgesprochen.
Die bürgerliche NZZ begrüsst den Bundesratsentscheid. Katharina Fontana schreibt in ihrem Kommentar, man könne dem Bundesrat nur beipflichten. Die rechtliche Einteilung in Mann und Frau stütze sich auf objektive Kriterien, die von der «riesengrossen Mehrheit» der Bevölkerung akzeptiert würden. Ausserdem habe in der Schweiz jeder das Recht, sich als nicht-binär zu fühlen, das sei Privatsache und der Staat habe sich da nicht einzumischen. Es sei jedoch auch nicht die Aufgabe des Staats, das Rechtssystem an jede noch so kleine Minderheit anzupassen.
Zudem findet Fontana, ganz im Rahmen der bundesrätischen Erklärung, der Aufwand sei schlicht zu gross. Stichworte sind der Militärdienst, die Witwenrente, Anschriften in öffentlichen Räumen, Gesetzessprache und so weiter.
Anders sieht es Edgar Schuler vom «Tagesanzeiger»: Er bezeichnet den Entscheid des Bundesrates als «mutlos und weit weg vom Volk». Die Exekutive verweigere sich jeder Anteilnahme an der Diskussion. Und: Der Bundesrat hinke dem Volk in der Genderfrage massiv hinterher. Auch er bezieht sich auf die Sotomo-Studie, nach der 53 Prozent der Befragten sich mit «Ja» oder «eher ja» für eine dritte Geschlechtsoption für amtliche Dokumente aussprechen.
Auch auf Twitter spalten sich die Meinungen:
Kein drittes Geschlecht einzuführen ist richtig.
— Hans im #HomoOffice (@hans_denkt) December 22, 2022
Schade, dass der Bundesrat aber auch nicht in die Gegenrichtung gehen will. Wirklich sinnvoll und fortschrittlich wäre ein geschlechtsblinder Staat! https://t.co/sODd43GFU2
Es ist sehr enttäuschend, dass der #Bundesrat an zwei Geschlechtern festhalten will.
— 🏳️🌈🇪🇺 THOMAS SUTTER the real zürcher stadtfux (@ZStadtfux) December 21, 2022
Ein neutrales Geschlecht einzuführen tut niemandem weh, aber würde vielen sehr viel bedeuten.
Heute brauchts mehr Mut, eine konservative Meinung als eine „progressive“ zu vertreten. Danke, #Bundesrat!
— Urs Rauber (@ZeitRauber) December 22, 2022
KOMMENTAR - Drittes Geschlecht: Jeder soll so leben können, wie er will, doch man kann es mit dem Minderheitenschutz auch übertreiben https://t.co/8Uj8EblDXT via @NZZ